Wir und Brasilien - Reisebericht: Periperi 2024
Reisebericht: Periperi 2024
Seit rund 40 Jahren besteht die Partnerschaft zwischen der Pfarrgemeinde Nossa Senhora da Conceição, Periperi und St. Peter und Paul Höhr-Grenzhausen. Von meinen Erlebnissen in unserer Partnergemeinde, während meiner Reise dorthin im Sommer 2024, möchte ich euch im Folgenden berichten.
Von Mathias Pereira Vogel (Text und Fotos)
Nach langer Zeit der Abwesenheit konnte ich dieses Jahr, begleitet von meiner Tochter Clara, meine Sommerferien in Brasilien verbringen und habe davon fast vier Wochen bei unseren uns partnerschaftlich verbundenen Schwestern und Brüdern in Periperi mitleben dürfen. Von unseren Erlebnissen, besonders in unserer Partnergemeinde, Nossa Senhora da Conceição, möchte ich euch im Folgenden berichten und Eindrücke teilen.
Zuerst, und zu wichtigst, will ich vornewegschieben, dass es sich, ab Tag 1 in Periperi, anfühlte, als sei ich nie weggewesen, so herzlich wurde ich empfangen! Es ist kaum zu glauben, es ist tatsächlich 9 Jahre her, dass ich zuletzt brasilianischen Boden betreten hatte!
Nach meinem Freiwilligenjahr, das ich, auch mit Unterstützung unserer Gemeinde und vieler netter Menschen aus unserer Pfarrei, 2006-2007 in Periperi verbringen durfte und in dem ich damals so viele nette Menschen, ja sogar meine heutige Ehefrau, kennen gelernt habe, konnte ich nach einigen Jahren unsere und meine Freunde bei einigen Besuchen wiedersehen. Umso berührter war ich in all der Zeit von der Zuneigung und dem ehrlichen Interesse, das viele mir Gemeindemitglieder immer noch entgegenbrachten.
So fühlte ich mich fast wie ein kleiner Promi, als ich im Abendgottesdienst am 04. August unerwartet „auf die Bühne“ (in den Altarraum) gebeten wurde, damit mich die versammelte Gemeinde begrüßen konnte. Bei dieser Gelegenheit habe ich dem derzeitigen Pfarrer unserer Partnergemeinde, Pfarrer Jucimario, das Geschenk unserer Eine-Welt-Gruppe in Höhr-Grenzhausen, überreicht: Einen handgefertigten Tonkrug, selbstverständlich salzglasiert, mit dem deutschen Text des Vaterunsers. Jucimario fing auch sofort an, die Aussprache zu trainieren und dürfte bei einem Besuch im Kannenbäckerland bestens vorbereitet sein. Dann kann er ja auch wat schaffe‘!
Ein weiteres, nein, zwei weitere Geschenke haben den Sprung über den großen Teich geschafft und symbolisieren für mich sehr die Verbundenheit unserer Pfarrgemeinden: Unser Diakon Marco Rocco hat mir noch vor meiner Abreise zwei Dalmatiken überreicht, da er von einem jungen Diakon in Periperi erfuhr, der kürzlich geweiht wurde, aus sehr armem Elternhaus stammt und sich keine eigenen leisten kann. Mein Freund Benedito hat die Dalmatiken (eine grüne, eine weiße…jetzt ist der junge Mann fürs Kirchenjahr gewappnet!) überreicht. Leider ist Waldacir inzwischen in eine Pfarrei im Landesinneren Bahias berufen worden und ich konnte noch keinen Schnappschuss von den Dalmatiken „in action“ anfertigen. Annemie hat aber unseren Auslandsfotografen Benedito darauf angesetzt und kann hier hoffentlich in Bälde Bildmaterial liefern.
Nicht nur Padre Jucimario habe ich getroffen, auch viele uns in Deutschland bekannte Gesichter habe ich wieder gesehen: Raimundo, der auch nach Jahrzehnten weiterhin Deutschstunden gibt, seinen Samstagnachmittag opfert, um Interessierten in Periperi nicht nur unsere Sprache, sondern auch unsere Kultur, unsere Lebensart, unsere Folklore zu vermitteln. Célia, Selma, Lucía, Neildes, die sich in verschiedenen Projekten immer noch für die Bedürftigsten der Bedürftigen einsetzen. Benedito, der uns schon so oft hier besucht hat, der erst diesen Sommer, ebenfalls nach längerer Abstinenz, wieder hergeflogen ist und trotz Tagen mit großen Schmerzen wegen einer schlimmen Erkrankung aktiv mit seinem Gesang die Gottesdienste in Periperi belebt und so besonders macht – wer es erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Miralva, die sich so viele Jahre selbstlos für die Armen eingesetzt hat, u.a. in den aus Höhr-Grenzhausen unterstützten Projekten des Gemeinderestaurants und dem „Weihnachten der Kinder“, die vor zwei Jahren einen Schlaganfall erlitten hat und seitdem von ihrer Tochter gepflegt wird sowie ihren Schwiegersohn William, den ehemaligen Diakon von Periperi, der uns auch schon besucht hat. Und natürlich Padre Oliveira, der weit nach seiner Verrentung vor inzwischen über 10 Jahren auch weiter in Periperi lebt und nach seinen Möglichkeiten noch, vor allem sozial, unterwegs ist. Inzwischen fast erblindet, meistert er trotzdem fast alle Wege zu Fuß! Ein Spaziergang mit ihm durch Periperi wurde so auch zum Happening: wenn er mal die Orientierung verliert, wird der nächstbeste Passant angesprochen und wer würde es wagen, Padre Oliveira nicht zu helfen! Der Spaziergang von ca. einem Kilometer dauerte dann zwar über eine Stunde, dafür kam Oliveira heil zu Hause an und wir hatten unterwegs einige nette Begegnungen…
Unsere langjährige Partnerschaft – nächstes Jahr werden es 40 Jahre – macht es diesen und vielen anderen, alten und jungen, uns bekannten aber vielen uns noch anonymen Menschen möglich, sich so sehr im Sinne der christlichen Nächstenliebe zu engagieren. Ich will euch von dem Ist-Stand berichten der Projekte, die auch mit unseren Spendengeldern finanziert werden.
Da ist zunächst das Schulprojekt zu nennen, in dem Kindern aus den ärmeren Familien Periperis Komplementärunterricht zu dem der staatlichen Schulen erteilt wird. Hier lernen vorrangig Kinder im Vor- und Grundschulalter, an den Standorten Jaqueira (Santo Antônio), Semente da Libertação (Constituinte II) sowie Nova Constituinte. Der Kindergarten neben der Kapelle São Cosme e Damião musste inzwischen aufgrund von Streitigkeiten mit den Gebäudeinhabern schließen. Eine traurige Realität vor Ort ist, dass viele Familien ihre Kinder gar nicht so sehr wegen der Bildung anmelden, sondern da diesen in der Gemeindeschule wenigstens eine Mahlzeit am Tag garantiert ist. Zu Hause ist nicht immer genug für alle da.
Und wie der Vater, so die Tochter: Clara hatte an drei Tagen die Gelegenheit, in den Gemeindeschulen mitzuhelfen, vor allem bei der Kinderbetreuung. Und wie alle von uns, die schon einmal eines der Projekte besucht haben, wurde sie „Opfer“ der kindlichen Neugierde: an Haut und Haaren wurde gezerrt, Clara aber auch mit Fragen gelöchert. Wann hat man schon einen Gast aus dem weiten Deutschland zu Besuch und die Gelegenheit, alle Infos aus erster Hand zu bekommen!
Ich habe mich auch sehr gefreut, als ich erfahren habe, dass eine meiner einstigen Schülerinnen in Santo Antônio, Jamile, inzwischen selbst für die Projekte arbeitet und als Lehrerin in Santo Antônio sowie Semente da Libertação tätig ist! Späte Genugtuung sozusagen, wenn man 18 Jahre später erfährt, dass man zur erfolgreichen Nachwuchsausbildung, zumindest ein Stück weit, beigetragen hat.
Diese Schulprojekte werden getragen von der Grupo Liberdade Já!, deren Vorsitz Padre Oliveiras Schwester Luiza weiterhin innehat und die als Sozialprojekt aus der pfarrgemeindlichen Jugendarbeit entstand.
Nun sind die meisten Akteure dem jugendlichen Alter entwachsen und die Gruppe hat, neben verschiedenen Projekten für Kinder, die Zielgruppe der Best-agers für sich entdeckt. In dem Projekt „Juntos envelhecemos melhor!“ wird in Treffen, bei Vorträgen und in Workshops wichtige Bildungsarbeit für und mit Senioren betrieben: Ich war z.B. bei einem Treffen dabei, an dem die Großeltern der Schulkinder in Semente da Libertação u.a. über ihre (Sonder-)Rechte informiert wurden, wie z.B. gratis Transport in den ÖPNV oder ein Anrecht auf Begleitung bei Arztbesuchen. Viele wissen gar nicht, welche Rechte sie überhaupt so haben…anschließend wurde bei einem gemeinsamen Fest mit den Kindern der „Dia dos avós“, der Tag der Großeltern, gefeiert.
Auch in Vista Alegre (São José Operário) besteht ein Schulprojekt, in dem Kinder beschult werden und sich auch in der angrenzenden Bibliothek Jugendliche selbständig (fort)bilden können. Dieses Projekt ist unter den Fittichen von Selma, die uns mit einer Gruppe Jugendlicher 2015 besuchte.
Ich kann auch einige von euch beruhigen: Der Gesundheitsposten, so wie wir ihn kennen, existiert natürlich noch, entgegen allen Gerüchten! Und zwar wirklich so, wie wir ihn kennen: Luciene und Neildes kümmern sich hier, treu und fromm, um die alltäglichen Wehwechen, vor allem von nahewohnenden Senioren, die den Weg zu einem Arzt entweder nicht auf sich nehmen können oder ihn sich schlicht nicht leisten. Hier können Blutdruck- und Diabeteswerte überprüft werden oder auch Medikamente hergestellt und verabreicht, es gibt Räume zu ersthelferischen Versorgung von Patienten und z.B. auch eine „Brillenecke“. Hier spenden Menschen alte, ausrangierte und ersetzte Brillen und noch ärmere können so wenigstens die Gestelle noch benutzen. Brillengestelle zum Nulltarif, wie bei einem der Marktführer hierzulande, gibt es in Brasilien nämlich nicht. Und das trotz gefühlt mindestens einem Optiker in jeder Straße.
Luciene hat mir berichtet, dass der Gesundheitsposten während der Corona-Pandemie zeitweise keine Patienten empfangen durfte, sie und Neildes aber dann Hausbesuche durchgeführt haben. Vielleicht ist der Gesundheitsposten so ein wenig aus dem Blickfeld geraten und die Gerüchteküche hat angefangen zu brodeln. Ich kann nur sagen, ich bin froh, dass sich dahingehend die Lage wieder normalisiert hat, denn ich habe den Gesundheitsposten, als ich einmal dort war, um meinen Blutdruck messen zu lassen (danach nie wieder, der war viel zu hoch, die haben bestimmt was falsch gemacht…) vor allem und besonders als Ort der Begegnung erlebt, wo vor allem bedürftige und teilweise einsame Senioren, aber auch jeder andere, stets ein offenes Ohr findet. Sowohl bei Problemen, als auch einfach nur zum Beisammensein. So hat sich mein Besuch dort auch auf über eine Stunde ausgedehnt, und das nicht, weil die Schlange zu lang gewesen wäre, sondern weil man dort herrlich mit hochinteressanten Menschen ins Gespräch kommt und darüber gerne die Zeit vergisst.
Nun zu dem Projekt der „Suppenküchen“. Wie ich weiter oben schrieb, hatte Miralva vor zwei Jahren einen Schlaganfall. Sie hatte jahre-, gar jahrzehntelang im Kirchort São Francisco „den Hut auf“ bzw. „die Hosen an.“ Natürlich kann sie jetzt nicht mehr arbeiten, aber sie besucht ihre Gemeinde immer, wenn es ihr möglich ist. Da sie inzwischen bei ihrer Tochter im Zentrum Salvadors lebt, in einer Etagenwohnung im zweiten Stock, ist das für sie beschwerlicher als man denkt.
Doch sie hat etwas hinterlassen, was noch weiterlebt und dank vieler Engagierter vor Ort auch weitergeführt wird: Die Suppenküche ist seinerzeit zu einem Gemeinderestaurant geworden und auch das existiert in dieser Form nicht mehr. Aber viele Freiwillige ermöglichen es, das immer noch monatlich Essenspakete, sogenannte Basiskörbe, an die bedürftigsten Familien ausgeteilt werden. Diese Basiskörbe beinhalten 1 kg Bohnen, 1 kg Reis, Zucker, farinha (Mehl), Brot und Cuzcuz. Carlinhos, der sich in dem Projekt engagiert, hat berichtet, dass nicht jeden Monat Geld für alles da ist, aber dass jeden Monat alle registrierten Familien den Basiskorb erhalten, zur Not in etwas abgespeckter Form: manchmal lassen sie das Brot weg, manchmal den Cuzcuz…
Die Bibliothek, die hinter der Kapelle steht, existiert auch noch, und noch immer wird sie gerne von Jugendlichen genutzt, um sich auf die Zulassungsprüfungen an den öffentlichen Universitäten vorzubereiten. Ein teures Studium an einer Privatuni können sich in Periperi nur wenige leisten.
In den Räumen selbst wurden die altbekannten Nähmaschinen durch Computer ersetzt: hier finden jetzt Computer-Kurse für Senioren statt. Gibt es eine Rentenberatung: hier gilt, wie auch in dem oben beschriebenen Projekt „Juntos envelhecemos melhor!“: viele wissen gar nicht, dass sie Rechte haben und z.B. schon einen Rentenanspruch haben. Dieses Wissen bringt natürlich im Fall der Fälle pures Geld und stellt damit eine wichtige Voraussetzung für eine Verbesserung der persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse dar!
Alle kirchlichen Sozialprojekte in Periperi haben mit einem Rückgang von Fördermitteln zu kämpfen. Einerseits ist die Inflation sehr hoch, andererseits haben sich inzwischen die Jesuiten (und Jesuitinnen) aus Periperi zurückgezogen und bieten keine Unterstützung mehr an. So ist die berühmte „Casa das irmãs“, in dem nach deren Wegzug 2010 eine größere Reisegruppe aus Deutschland untergebracht war, inzwischen zum Pfarrhaus geworden. Die Einigen sicher wohlbekannte und mir sogar fast heimische „casa do padre“ am Praça da Revolução ist verkauft, befindet sich derzeit im Umbau und wird wohl bald zu einem Supermarkt.
Ich möchte abschließend meinen Dank aussprechen: unseren Freunden in Periperi, die ihren verlorenen Sohn und dessen Tochter mit einer Herzlichkeit empfangen haben, dass mir die Spucke wegblieb. Der Einen-Welt-Gruppe in Höhr-Grenzhausen, deren langjährige Arbeit mir die Möglichkeit gegeben hat, nach meiner Schulzeit solch ein wichtiges, für mich wirklich prägendes Jahr zu erleben und bis heute in Periperi ein „zweites zu Hause“ zu haben. Besonders wichtig ist Ursula Hess, die sich mit ihren Übersetzungskünste zum Wohle der Partnerschaft einsetzte, ihre persönliche Verbindung zu Padre Oliveira hat dieser eine besonders menschliche Note gegeben. Unserer Pfarrgemeinde, die diese einzigartige Partnerschaft schon so lange unterstützt: besonders zu nennen ist unser langjähriger Pfarrer Alfred Much, der sich sehr für eine sehr menschliche Partnerschaft eingesetzt hat, mit vielen Besuchen und der Beherbung einiger Gäste, jung und alt, eine Partnerschaft, die wegen vieler persönlicher Begegnungen viel mehr ist als nur Geld, das von A nach B geschickt wird! Und vor allem den Spendern, die mit ihren kleinen und großen Zuwendungen, monatlich oder einmalig, dafür sorgen, dass diese wichtige und wertvolle Arbeit weitergeführt werden kann. Danke!
Pater Oliveira hat es, sinngemäß, so ausgedrückt: Wenn wir einfach nur neue Stühle für die Kirche erbeten hätten oder Geld für anstehende Reparaturen, hätte die Partnerschaft wahrscheinlich keine 40 Jahre gehalten, sondern maximal vier. Die Zuwendungen, die wir aus Deutschland erhalten, helfen, unsere Arbeit nachhaltig zu machen. Wir konnten Orte der Begegnung schaffen, an den gelernt, gelebt und geglaubt wird.